Von Bernd Hüppauf
Als die Mauer fiel, war ich weit weg, so weit, wie es die Geographie möglich macht: in Australien. Dennoch habe ich Erinnerungen an den Tag und die Tage danach, als ob ich dabei gewesen wäre. Am Tag nach der Maueröffnung erschien der "Sydney Morning Herald" mit einer riesigen Überschrift: "Towards a Fourth Reich?". Ich sehe die Lettern noch immer deutlich vor mir. Noch nie war die Zeitung, die ich seit über zehn Jahren gelesen hatte, mit einer so großen Überschrift erschienen. Gar nicht dazu passen wollten die Fotos, die der "Herald" in dieser Ausgabe und an den folgenden Tagen druckte: lachende Menschen am Brandenburger Tor, tanzend oder auf der Mauer, Sektflaschen schwenkend, und die Mauer war plötzlich farbig.
Dann kamen Bilder von den Strömen der Besucher von Ost nach West. Diese Bilder überlagern sich in meiner Erinnerung zu einem Bild. Es wird begleitet von der Erinnerung an Emotionen, verstärkt durch Telefonate aus Deutschland, alle erfüllt vom Bewusstsein eines historischen Augenblicks.
Meine Gefühle, ich kann sie leicht zurückrufen, waren gemischt aus ungläubigem Staunen und Freude, versetzt mit einem Schuss Unsicherheit und auch Zorn über Assoziationen, die in vielen Medien und nicht allein in der Zeitungsüberschrift geweckt wurden. Die Skepsis einiger Anrufer teilte ich nicht. Ich hatte damals über zehn Jahre in Sydney gelebt und an einer Universität deutsche Literatur und Kulturgeschichte unterrichtet. "Deutschland seit 1945" war eine Überblicksvorlesung mit Seminar, regelmäßig angeboten und von vielen Studenten, einige konnten nicht ein Wort Deutsch, belegt. Die Studenten wussten wenig aber waren neugierig und fragten viel. Die Teilung verstanden sie nicht, sie blieb abstraktes Wissen. Eine Mauer mitten durch Sydney konnte sich niemand vorstellen. Ich hatte stets Gastreferenten eingeladen: Journalisten, durchreisende Professoren, mal einen Bundestagsabgeordneten und immer den Generalkonsul der BRD (Sydney) und den Botschafter der DDR (Canberra). Mauer, Teilung und alle verwandten Themen konnten nicht behandelt werden ohne den Rückgriff auf die Zeit vor 1945. Das bedeutete weniger den Zweiten Weltkrieg als das Dritte Reich und den Holocaust. Viele der Studenten waren Kinder oder Enkel jüdischer Immigranten aus Deutschland und Österreich, von denen einige sich gegen den ausdrücklichen Wunsch ihrer Eltern mit deutscher Geschichte beschäftigten. Sie waren nicht von purer Liebe zum Gegenstand geleitet, und ihre Fragen waren oft von ambivalenten Gefühlen motiviert und bohrend. In jeder Seminarsitzung erlebte ich, wie zutreffend Gustav Heinemanns Wort über Deutschland als einem schweren Vaterland war. Wie kann man mit einer gebrochenen Identifikation vom Vaterland sprechen? Die Muttersprache half ein wenig über das Problem hinweg. Viele Studenten verbrachten ein Semester in Deutschland und kamen fast ausnahmslos begeistert zurück. Aber in der Distanz stellte sich bald wieder ein ambivalentes Verhältnis her, jetzt nicht ausschließlich mit der Zeit vor 1945 verknüpft, sondern mit den Grausamkeiten der Teilung, der Mauer, Fahrten durch die DDR und Erlebnisse mit der Volkspolizei, Grenzkontrollen, wenn sie mit deutschen Freunden und Freundinnen nach Berlin gefahren waren. So viel Staat, Polizei, Militär, Autorität, Beklemmung, Heuchelei. Für Australier, denen weniges so wichtig ist wie Gelassenheit, relaxed ist das Lieblingswort, stellte sich die Frage: gab es da eine mentale Kontinuität in der deutschen Geschichte?
Und dann kamen die Bilder vom Mauerfall und den feiernden Deutschen, in den Zeitungen, im Fernsehen, wochenlang, jeden Tag, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht. Friedlich, heiter und zukunftsfroh. Und die Mauer war bunt. Zum ersten Mal stellte sich Entspannung ein, lächelnde Gesichter, wenn von deutschen Themen die Rede war. Gefühle von Befreiung, Erlösung und Heiterkeit, die sich in Deutschland nur kurze Zeit erhielten und vom komplizierten Alltag der Vereinigung bald verschluckt wurden, wie ich selbst aus der Distanz bemerkte, hielt an. Für die Studenten war aus der Entfernung das Komplizierte des Alltags nicht so leicht zu erkennen. Vielleicht wollten sie es nicht sehen, sondern sich endlich ihren positiven Erinnerungen uneingeschränkt hingeben, die Entspannung spüren, Erwartungen an die kommende friedliche Zukunft ausmalen und den nächsten Besuch in Berlin ohne Mauer planen.
Irgendwann kam auch die Frage auf, was das Ende eines Staates und des Kommunismus eigentlich für die Zukunft bedeute. Konnte es nur positive Wirkungen haben? Das glaubte keiner der Studenten. Aber diese Fragen blieben im Hintergrund. Vorherrschend war das Gefühl von Erleichterung. Das wollte nicht gestört werden. Zum ersten Mal wurde das Wort relaxed in Gesprächen über Deutschland möglich. Noch heute, nach vielen Jahren, die ich in New York und Berlin gelebt habe, stellt sich beim Anblick der Bilder vom November 1989, der feiernden Menschen vor dem Brandenburger Tor oder auf der durchlöcherten Mauer mein australisches Gefühl von damals ein: eine Mischung aus Nähe und Ferne, eine Erinnerung, als ob ich in Berlin dabei gewesen wäre, und dies Gefühl von Teilhabe ist vermischt mit australischer Sonne, blauem Himmel über Sydney und einem Seminarraum, in dem ein Surfbrett in der hinteren Ecke steht.
Prof. em. Bernd Hüppauf
Professor of German
New York University
» Website
Autor von Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft
» Lesen Sie auch:
"Warum die Zukunft sich nach Unschärfe drängt. Über Ernst Vollands unscharfe Bilder" Von Bernd Hüppauf (pdf, 2 Seiten)